über das Verschwinden der Wildnis

Als Ex-Archäologin beschäftigt mich die Kulturgeschichte der Menschen immer wieder. Als ich diesen Job noch aktiv betrieben habe, war meine Hauptfrage nicht so sehr, was auf einer Grabungsstätte passiert ist, sondern warum Menschen getan haben, was sie getan haben.

So ist auch das rapide Verschwinden der Wildnis und der Wildtiere auf unserem Planeten ist etwas, was mich zutiefst betrifft, was mich Ohnmacht und Trauer spüren lässt. Im Jahr 2020 waren noch 35% Wildnis und nur mehr 4 Prozent der Wildtiere auf unserem Planeten übrig. Doch – warum haben Menschen überhaupt begonnen, sich aus der Wildnis zu entfernen?

Was auf der einen Seite ein Bewusstseinsentwicklungsschub gewesen sein muss, hatte auf der anderen auch massiv negative Folgen. Sich in der Wildnis und Natur zu bewegen bedeutet, zutiefst mit diesem lebendigen System verwoben zu sein. Die Wahrnehmung ist geschärft, der Instinkt hellwach und das Leben ist in dauernder Bewegung. Ein Eingebundensein in ständiges Werden, Vergehen, Verwandeln. Naturvölker sind heute nahezu verschwunden. Im 20. und 21. Jahrhundert ging die Zerstörung der wild-natürlichen Lebensräume – damit aber auch der unsichtbaren Zusammenhänge in der globalen Biosphäre so rasant von statten, dass wir heute direkt am Abgrund unseres noch funktionierenden Ökosystems stehen.

Ich frage mich, wann das begann – wohl schon sehr, sehr früh in der Jungsteinzeit (ab ca. 10.000 BC). Mit der Entscheidung zu Sesshaftigkeit, Umzäunung der Wohnareale und beginnendem Ackerbau, sowie der Domestizierung einzelner Wildtiere wurde das Leben auf der einen Seite sicherer und berechenbarer – denn das Wilde wurde zumindest teilweise ausgesperrt und bis heute nie wieder eingelassen. Vordergründig. Denn das Wilde war nie nur im Außen. Es war seit jeher auch im Innen. Hatte sich in einem Naturvolk jemand isoliert oder war einem Clanmitglied gegenüber aggressiv, wurde er oder sie als Bedrohung eingestuft – was Konsequenzen hatte, bis hin zum Ausschluß aus dem Clan (was einem Todesurteil gleich kam) oder der Tötung des jeweiligen Individuums. Was heute unmenschlich anmuten mag – doch war es das? Ist das, was wir heute dem Ökosystem, Menschen, Tieren, uns selbst antun so human? Als wir begannen, das Wilde im Außen auszusperren, haben wir zugleich das Wilde in uns eingesperrt. Eingesperrt in Wälle, Zäune, Mauern von Dörfern und Städten, regulierte sich Unachtsamkeit, Aggression, Rücksichtslosigkeit nicht mehr in einem riesigen Ökosystem (Unachtsamkeit dem sprichwörtlichen Säbelzahntiger gegenüber passierte einem Menschen wahrscheinlich nur ein einziges Mal, bevor er als Mahlzeit in dessen Eingeweiden endete), sondern konnte sich innerhalb der Mauern regelrecht kultivieren.

Natürlich gab es auch immer die andere Seite, die soziale und ökonomische Werte, Gesetzmäßigkeiten zu einem gedeihlichen Miteinander, Rechte des Einzelnen entwickelte – wo sich integriertes Leben weiterentwickelte. Doch zugleich und wahrscheinlich sogar in gleichem Maße kultivierte sich der Schatten, passierten Übergriffe und Verletzungen. Im Einzelnen wie im Kollektiv. Das Aussperren der Wildnis, das sich-getrennt-Fühlen war vielleicht der Beginn dieser Entwicklung. Ich erlebe oft Menschen, die Angst haben, allein in den Wald zu gehen (by the way in einen europäischen, in der Regeln bewirtschafteten, alles andere als „wilden“ Wald). Denn zumeist sehen wir „die Natur“ als etwas, das außerhalb von uns existiert. Wenn‘s hoch kommt, fühlen wir uns als „Teil der Natur“. Doch wenn unsere Wahrnehmung wieder gesundet, die vielfachen abgespeicherten Traumaareale in unserem Körper wieder mit Energie versorgt werden, wenn wir uns wieder spüren und wieder fähig sind, unsere Gegenüber auf gesunde Weise in uns abzubilden – wenn Kommunikation nicht mehr nur bedeutet ich höre (in etwa) was du sagt (denn meine Wirklichkeit ist immer eine völlig andere als deine, also ist es ein Wunder, dass wir uns auch nur halbwegs verständigen können)… wenn Kommunikation bedeutet „ich fühle dich wie du mich fühlst“ mit all meinen Sinnen, dann weitet sich das auf alles aus, die gesamte Umgebung. Dann ist Natur nicht mehr ausserhalb von mir, dann ist sie in mir.

Aber auch jeder Einkauftstempel und jede Autobahn. Jede versiegelte Bodenfläche und jedes sterbende Wildtier. Wenn unsere Wahrnehmung gesundet dann wird in allen Zellen fühlbar, dass wir Natur sind.

global noch 4 Prozent Wildtiere und 35% Wildnatur. Ein Ökosystem, das kippt, durchzogen von einer bereits halb virtuellen Hochglanzkultur, an deren Basis sich nicht mehr verrotten wollender Dreck sammelt. Sollen wir einfach aufgeben?

Ich für mich kann das nicht. „Wo die Gefahr wächst, wächst das Rettende auch“ besagt ein Zitat von Friedrich Hölderlin. Wenn das stimmt, dann muss es Bewegungen geben, die uns genauso wie unser sterbendes Ökosystem auf einer anderen, holistischen Ebene die Tür eintreten. Und die gibt es… Menschen, die das Anhäufen von Wissen nicht mehr mit Weisheit verwechseln. Ich glaube, wenn sich jeder von uns mal vergegenwärtigt, was er oder sie tatsächlich tun kann, bei sich selbst, in seinen oder ihren engsten Beziehungen, im direkten „natürlichen“ örtlichen Umfeld, in der Arbeit etc. – und das im Einklang mit dem, was als Gabe und als Schatten in uns angelegt ist, was einer wahrhaft sinnvollen Arbeitsteilung gleichkommt, dann können wir schneller und effektiver als wir uns vorstellen können heilsame, nährende Kreisläufe im Innen wie im Außen erschaffen.

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